15. März 2013 | Von Marc Mandel
In Darmstadt gab es willige Vollstrecker
Gedenkfeier – Renovierung des Glaskubus am siebzigsten Jahrestag der letzten Deportation von Sinti und Roma
| | Das zerstörte „Denkzeichen“ ist wiederhergestellt: Der Glaskubus am Güterbahnhof erinnert an die Deportation von Juden, Sinti und Roma in das Todeslager Auschwitz-Birkenau. Die Hälfte der Renovierungskosten wurde durch Spenden aufgebracht. Foto: Roman Grösser
„Das Denkzeichen Güterbahnhof ist ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis unserer Stadt“, sagte Jochen Partsch am Freitag, „unser Grundprinzip muss sein, Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen und daraus zu lernen.“ Zum ersten Mal trafen sich an der Ecke Bismarckstraße/Kirschenallee bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung am Freitagvormittag die Jüdische Gemeinde Darmstadt und der Landesverband der Sinti und Roma mit Vertretern der Wissenschaftsstadt sowie der Initiative „Denkzeichen Güterbahnhof“. Vor genau siebzig Jahren war die letzte große Deportation von hier aus gestartet. Das „Denkzeichen“ besteht aus einem Glaskubus, in dem Scherben zu sehen sind, auf denen die Namen von 600 Menschen eingraviert sind, die von hier aus in Viehwaggons in die Todeslager transportiert wurden. Die Künstler Ritula Fränkel und Nicholas Morris ließen den Kubus 2004 auf einen abgeschnittenen Schienenstrang montieren, der in einem Prellbock mündet. Im Juli 2006 beschädigten ihn Hooligans so stark, dass Wasser eindrang und ihn langsam zerstörte (wir haben berichtet). Sie hatten rund um den Hauptbahnhof einen Schaden von mehr als 150 000 Euro verursacht. Von den Renovierungskosten wurden mehr als die Hälfte durch Spenden aufgebracht, wie der Oberbürgermeister betonte – unter anderem durch die Aufführung des Oratoriums „Annelies“ am 1. Mai in der Orangerie (wir haben berichtet). Vom Güterbahnhof aus fuhren mehr als 3000 Juden in den Tod sowie fast 600 Sinti und Roma. Am Freitag wurde es ganz still an der Ecke Bismarckstraße/Kirschenallee, als Schüler der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in klirrender Kälte Namen von Deportierten mit Altersangabe vorlasen. Vielen wurde erst jetzt bewusst, dass auf den Todeslisten die Namen von zahlreichen Kindern standen, sogar von Säuglingen. Der Schauspieler Horst Schäfer bot eine ergreifende Interpretation der „Todesfuge“ von Paul Celan. Romeo Franz und sein Sohn Sunny spielten auf ihren Violinen „Gloomy Sunday“ (das Lied vom traurigen Sonntag), wobei sie von Unge Schmitt auf der Gitarre begleitet wurden. „Die Nazi-Verbrechen waren nur möglich, weil es auch in Darmstadt willige Vollstrecker gab“, betonte Jochen Partsch, „es hat 1944 sogar Pläne für ein Konzentrationslager in Darmstadt gegeben. Sie sind lediglich durch die Brandnacht am 11. September vereitelt worden.“ Die Vernichtung einer halben Million Sinti und Roma durch die Nazis sei lange ein unbekanntes Kapitel unserer Geschichte gewesen. Der Oberbürgermeister verwies auf das Mahnmal von Bernhard Meyer auf dem Ludwig-Metzger-Platz vor dem Justus-Liebig-Haus, das daran erinnert, dass zahlreiche Sinti-Familien in der Altstadt lebten. Betrachte man länger die in sich verkeilten Glasscherben im „Denkzeichen“, sei etwas von der Gewalt gegen diese Menschen zu spüren, sagte der Oberbürgermeister. Am 15. März 1943 wurden die verbliebenen Darmstädter Sinti an ihren Arbeitsstellen verhaftet, um in das Todeslager Auschwitz-Birkenau transportiert zu werden.