Gedenkveranstaltung und Eröffnung der Ausstellung
Irene Bento überlebte den Holocaust, weil der Zirkus Althoff sie versteckte / Ausstellung in der ehemaligen Synagoge
Von Astrid Ludwig
Als Luft- und Seilartisten war die jüdische Familie Lorsch aus Eschollbrücken weltberühmt. Sie gastierte schon um die Jahrhundertwende in Buenos Aires und New York. Die Nazis ermordeten viele Familienmitglieder in Auschwitz. Irene Bento, Enkelin des Zirkusgründers, überlebte, weil der Zirkus Althoff sie und ihre Angehörigen vier Jahre lang versteckte. Eine Ausstellung in der ehemaligen Synagoge in Pfungstadt dokumentiert von Sonntag an die Geschichte der Retter und Geretteten.
DARMSTADT/PFUNGSTADT. Die Fotos erzählen Geschichten aus einer anderen Welt und anderen Kontinenten. Als die meisten ihrer Nachbarn im kleinen Eschollbrücken, heute Stadtteil von Pfungstadt, oftmals nur bis Darmstadt reisten, schlug die Zirkusfamilie Lorsch ihre Zelte am Zuckerhut auf, in Buenos Aires, sie gastierte in New York und Philadelphia oder in Paris. Wenn sie im Winter ihr Quartier in die Heimat verlegten, zogen sie mit Elefanten und Prunkwagen nach Eschollbrücken ein und wurden dort von einem Musikzug empfangen. Die Pfungstädter Straße, in der sie lebten, hieß im Volksmund Lorsche Gass.
“Die Lorschs waren polyglott. Sie sprachen zwischen fünf und zehn Sprachen. Kosmopoliten, die irgendwie gar nicht ins Dorf passten”, sagt Renate Dreesen. Fasziniert blättert die Vorsitzende des Arbeitskreises “Ehemalige Synagoge Pfungstadt” in den Fotoalben, die ihr Irene Bento aus dem Familienbesitz geliehen hat. Dreesen ist Mitglied im Darmstädter Arbeitskreis “Geschichte vor Ort” und organisiert jährlich die Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Deportation der jüdischen Familien, der Sinti- und Roma am Darmstädter Güterbahnhof mit. Sie hat die am Sonntag beginnende Ausstellung in der Pfungstädter Synagoge über die Bentos initiiert. “Eine Geschichte, die unbedingt erzählt werden muss. Eine Rettergeschichte.” Für Renate Dreesen ist es wichtig, dass zum Gedenktag der Pogrome gegen Juden “auch die positiven Beispiele gezeigt werden”.
Die Geschichte der Irene Bento, die seit Kriegsende mit ihrem Mann Peter wieder in Eschollbrücken lebt, ist so ein Beispiel. “Ihr Leben wurde in Büchern geschildert und von Barbra Streisand verfilmt, doch in Pfungstadt kennt sie keiner oder will sie keiner kennen”, bedauert Dreesen. Irenes Retter, Maria und Adolf Althoff, ebenfalls eine weltberühmte Zirkusfamilie, wurde für ihr mutiges Handeln von Yad Vashem mit der Medaille der “Gerechten der Völker” ausgezeichnet. In Eschollbrücken nahm kaum einer Notiz davon.
Die Familie – Irene, die Eltern Alice und Hans, die Schwester Gerda – leben als Artisten, bis ihnen der zunehmende Antisemitismus der 30er Jahre das Leben schwer und die Arbeit unmöglich macht. Irene darf nicht länger in die normale Schule gehen. Weil die Klassenkameraden ihr vorwerfen, “dass Juden stinken”, lutscht sie als Kind immer Pfefferminzbonbons, erzählt sie in ihren Erinnerungen. Ein Zahnarzt aus dem Ort gewährt ihr trotz der rassistischen Nazi-Hetze Arbeit.
Als der Zirkus Althoff in der Nähe gastiert, schickt ihre Mutter sie zu den Artisten, um nach Arbeit zu fragen. Die inzwischen 18-Jährige lernt den Musikclown Peter Bento kennen, die beiden verlieben sich. Irene, ihre Mutter und ihre Schwester finden Unterschlupf und gehen mit Althoff auf Tournee. Irene tritt als Clown auf, als Zirkusreiterin und Elefantendompteurin. Immer wieder müssen sie sich auch dort zwischen 1941 und 45 vor den Kontrolleuren der Nazis verstecken. Doch sie überleben dank der Solidarität der Artisten, während die Großmutter Sessie Lorch und deren Geschwister in Auschwitz ermordet werden. Nach dem Krieg kehren die Bentos als einzige jüdische Familie nach Eschollbrücken zurück. Sie arbeiten weiter als Artisten, auch die fünf Kinder ergreifen diesen Beruf.
“Ihr Schicksal muss thematisiert werden. Ihnen sollte die Ehre erwiesen werden, die sie verdienen”, findet Renate Dreesen. Mit Originalfotos und Zirkuskostümen der Familie Bento hat sie die Ausstellung komplettiert, die am Sonntag, 17 Uhr, mit einer Gedenkfeier in der ehemaligen Synagoge, Hillgasse 8, in Pfungstadt eröffnet wird. Irene und Peter Bento, beide heute 80 Jahre alt, haben ihren Besuch zugesagt.
� Die Ausstellung ist bis Ende November jeweils mittwochs bis samstags von 16 bis 18 Uhr zu sehen und sonntags von 10 bis 12 Uhr sowie nach Vereinbarung (Tel. 06157/ 84470)