Häufig hört man – belegt durch Umfragen – Schüleräußerungen, sie wollten nichts mehr hören über die NS-Zeit. Ich kann dies nicht bestätigen. Gerade junge Menschen sind oft viel eher bereit, sich mit der Geschichte auseinander zu setzen als ältere – wenn man bestimmte Dinge beachtet. Jugendlichen kann man nicht mit Schuld kommen, sie sind Nachgeborene wie ich auch. Schuld ist immer an Personen und Ereignisse gebunden.
Facing History and Ourselves
Seit vielen Jahren arbeite ich mit dem Programm “Facing History and Ourselves” . Dieses Programm wurde vor fast 30 Jahren entwickelt, um das Rassismus – Problem in Amerika anzupacken. Es bietet meiner Ansicht nach viele gute vor allem methodische Ansätze für den Zugang zur Geschichte des Holocaust. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Vermitteln von historischen Fakten, sondern um das Handeln von Personen und unsere heutige Haltung zu diesem Handeln.
Gerade in dem Ansatz “Facing History and Ourselves” sehe ich Möglichkeiten, mit Schülern über die Shoah zu arbeiten und dabei nicht bei der Bekundung allgemeiner Betroffenheit stehen zu bleiben. Ausgehend von der Reflexion der eigenen Identität, auch eigenen Erfahrungen mit Verletzung und Diskriminierung werden eigene Vorurteile bewusstgemacht und damit eine wesentliche Voraussetzung geschaffen, sie zu überwinden.
Ein Bezug zur Gegenwart wird immer mit beabsichtigt und mitgedacht. Dies hat für mich dazu geführt, vor allem vor Ort zu recherchieren. Dabei wird deutlich, was die Geschichte der Nazizeit mit uns heute zu tun hat, dass die Geschehnisse nicht abstrakt, weit weg und wenig fassbar sind.
Für die konkrete Arbeit ist für mich wichtig, an eigenen Bezugspunkten anzuknüpfen, d.h. in der Schule, am Wohnort, aber auch in der Familie und sich besonders einzelnen Schicksalen zuzuwenden. Die Spurensuche knüpft an der Erforschung unserer Schulgeschichte an, die 1998 mit der Publikation “Schule gestern – Schule heute” abgeschlossen wurde.
Wider das Vergessen – Schüler gehen auf Spurensuche
Von Darmstadt aus fanden über die Justus-Liebig-Schule in den Jahren 1942 und 1943 Deportationen aus dem ganzen südhessischen Raum statt , die Schule diente als Sammellager. Die Listen der verschiedenen Deportationen sind erhalten und zugänglich . Es lag also nahe, ausgehend von diesen Listen auf Spurensuche zu gehen. Mittlerweile liegen nicht nur die Listen für Darmstadt vor , sondern auch die Deportationslisten aus dem ehemaligen Volksstaat Hessen.
Als ich das Projekt den Schülern vorstellte, bat ich sie, aus den Deportationslisten möglichst Namen herauszusuchen, zu denen sie einen Bezug herstellen können: Personen aus ihrem Wohnort (unsere Schule hat ein sehr großes Einzugsgebiet), ihrer Straße etc. Ich regte dazu an, in die Archive zu gehen, in die Straßen, Nachbarn zu befragen. Dennoch wurden die Jugendlichen oft abgewiesen und es bedurfte vieler Ermutigungen, beharrlich weiter zu machen. Eine Form der Ermutigung war, dass ich einen Film zeigte, der die Schwierigkeiten bei der Spurensuche zum Gegenstand hatte. In diesem Film wurde am Beispiel eines Ortes in unserer Nähe vor allem gezeigt, dass die Menschen durchaus bereit sind, über die Themen Nationalsozialismus, Pogromnacht und Judenverfolgung zu reden, aber sofort jedes Gespräch verweigern, wenn es um konkrete Orte oder gar Namen geht. Es stellte sich als hilfreich heraus, den Schülern ein offizielles Schreiben der Schule mitzugeben, in dem das Projekt beschrieben und um Unterstützung gebeten wurde.
Die Schüler haben zum Teil sehr viele Menschen gesprochen, in alten Akten gestöbert und findig neue Wege gesucht, um an weitere Informationen zu gelangen. Unter besonderen Bedingungen und bei einem schwierigen Thema haben sie auch viel über Arbeitsformen gelernt, aber vor allem haben sie erfahren, wie auch heute noch mit diesem Teil unserer Geschichte umgegangen wird. Seit sieben Jahren gehen Schüler an der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt auf Spurensuche und fördern z. T. Erstaunliches zu Tage. Zum 9. November präsentieren sie ihre Ergebnisse in einer kleinen Gedenkveranstaltung in der Schule.
Wenn Schülerinnen und Schüler auf Spurensuche gehen und Erinnerungsarbeit leisten, so ist das nicht Selbstzweck. Aus der Geschichte lernen heißt, sich dafür zu engagieren, dass sie sich nicht wiederholt. Indem wir uns erinnern, stellen wir uns den Versuchen der Verdrängung und Leugnung entgegen.
Heute steht für Jugendliche nicht die Frage der Schuld im Mittelpunkt, sondern die der Verantwortung. Empathie für die Opfer und Empfindsamkeit für das Leid anderer ist auch eine Voraussetzung, allen Formen von Diskriminierung und Gewalt gegenüber Minderheiten in unseren Tagen entschiedener und mutiger entgegenzutreten.
Vor einigen Jahren wurde ich nach Budapest zu einer „Conference for Tolerance“ eingeladen, um dort diese Projektarbeit vorzustellen. In Budapest geht man häufig mit Zeitzeugen in Schulen – wie bei uns auch. Aber neu war für mich, dass Überlebende gemeinsam mit Helfern in Schulen gingen. Ein faszinierender Ansatz. Ich ließ im darauf folgenden Jahr die Schüler nach Rettergeschichten fahnden – allerdings mit mäßigem Erfolg. Auch über diese Geschichten wird auch heute oft noch geschwiegen und wie wir wissen, gab es mehr Täter, noch mehr Opfer und nur wenige Helfer. Selbst die Forschung beschäftigt sich erst seit wenigen Jahren mit den Rettergeschichten.
Gerade für Jugendliche scheinen mir diese Rettergeschichten in besonderem Maße bedeutsam zu sein, sie können positive Beispiele, ja möglicherweise auch Leitbilder vermitteln. Tagtäglich werden wir z. B. in den Medien mit allen kaum denkbaren Abgründen menschlichen Handeln konfrontiert, da sind die Täter des Holocaust manchmal nur eine besondere Variante. Positive Beispiele sind offenbar weniger spektakulär. Beispiele für Zivilcourage gibt es natürlich, aber wahrgenommen werden sie kaum.
Retter und Helfer – der Zirkus Lorch aus Eschollbrücken
Ein weiteres besonders interessantes Beispiel aus Pfungstadt ist die Geschichte der berühmten Zirkusfamilie Lorch. Diese bemerkenswerte Geschichte der Zirkusfamilie ist als Buch und für das Fernsehen dokumentiert, in den USA sogar von Barbara Streisand verfilmt, war aber in Eschollbrücken und Pfungstadt kaum bekannt. Die älteren Bürger und die Bürger des Stadtteils Eschollbrücken kennen die Geschichte, die Jüngeren kaum. Deshalb hat der Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt e.V. 2003 die Ausstellung „Zirkus Lorch Die Artistin, der Clown und ihr Retter“ in der ehemaligen Synagoge Pfungstadt gezeigt.
Seit 150 Jahren leben Mitglieder der Familie Lorch in Eschollbrücken, vor genau 100 Jahren bauten sie ihr Haus in der „Lorchegass“. Der Zirkus Lorch wurde bereits im 19. Jahrhundert gegründet. Als Ikarier waren die Artisten der Familie Lorch weltberühmt. Julius Lorch, Irenes Großvater, war bekannt als König der Iakrier. Sie gastierten nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, aber in Eschollbrücken waren sie zu Hause. Alice und Hans Danner waren Artisten, Hans Danner arbeitete am Schwungseil, Irene war Zirkusreiterin, ihr Mann Peter Bento Musikalclown. Ihr Winterquartier bezogen sie mit Elefanten und Tross in Eschollbrücken, wo sie in frühren Zeiten immer freudig begrüßt wurden, bis nach 1933 auch in Eschollbrücken der Antisemitismus offen zutage trat.
Am 7. März 1943 wurden Sessie Lorch, Irenes geliebte Großmutter, und ihr Onkel Eugen Lorch aus ihren Wohnungen aus Eschollbrücken von der Gestapo abgeholt, nach Darmstadt verschleppt und in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre Onkel Arthur und Rudolph wurden ebenfalls in Auschwitz ermordet. Aphons Lorch war bereits 1940 im Lager Gurs in Frankreich zu Tode gekommen.
Sessie Lorch, geboren am 3.12.1874, war die Ehefrau des Zirkusdirektors Julius Lorch. Er selbst starb in bitterster Not in Brüssel, nachdem er nach einem Engagement nicht mehr nach Nazideutschland zurück konnte. Seine Frau Sessie hat er nicht wieder gesehen.
Irene Bento, ihre Kinder, ihre Mutter Alice Danner und ihre Schwester Gerda haben überlebt, weil sie im Zirkus Althoff vor den Nazis versteckt wurden. Adolf und Maria Althoff wurden 1995 für ihr mutiges Handeln von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.
Irene und Peter Bento leben noch heute in Eschollbrücken. Trotz allen Leids, das man ihnen und ihrer Familie zugefügt hat, sind sie zurückgekehrt – als einzige jüdische Familie. Sie haben die ganze Welt gesehen, viele verehren und bewundern sie. Sie entstammen einer weltberühmten Familie und sind selbst berühmt.
Es gibt viele Möglichkeiten, diese Geschichte mit Schüler zu erarbeiten. Selbst habe ich mit Schülern die Ausstellung besucht, sie waren sehr beeindruckt vom Schicksal der Lorchs. Hinzu kommt bei diesem Beispiel, dass nicht nur für Jugendliche die Zirkuswelt etwas ganz Besonderes darstellt. Auch der Film und das Buch ermöglichen einen guten Zugang zum Thema. Material ist also vorhanden.
Ein großer Vorteil bei der Arbeit in der eigenen Umgebung ist, dass es möglich ist, konkrete Orte zu besuchen, Menschen zu treffen, die über die Ereignisse Bescheid wissen, die die Personen kennen. In diesem Beispiel könnte auch der Kontakt zu der Familie hergestellt werden. Das Zusammentreffen mit Zeitzeugen ist für Schüler immer sehr bewegend und wirkt meist nachhaltig. Die Wirkung ist noch größer, wenn es am eigenen Ort geschieht. Aber auch für die Zeitzeugen sind solche Begegnungen bedeutsam, wenn sie feststellen, dass ihr Schicksal wahrgenommen wird. Auch wenn das Vergangene nicht ungeschehen gemacht werden kann, lindert es vielleicht den Schmerz, wenn wir uns mit der Vergangenheit auseinander setzen, uns der Vergangenheit stellen. Die Jugendlichen, die an den Spurensucheprojekten teilgenommen haben, akzeptieren nicht mehr ohne weiteres, wenn die Verbrechen geleugnet werden, wenn weiter behauptet wird, man habe das nicht gewusst oder nichts tun können.
Sie haben erfahren, dass manche etwas getan haben, wie der Pfungstädter Dentist Eidmann, der Irene als junges Mädchen eine Stelle als Zahnarzthelferin gegeben hatte, obwohl es längst verboten war, Juden zu beschäftigen. Oder Maria und Adolf Althoff, die die Familie über 4 Jahre versteckt haben. Menschen wie Maria und Adolf Althoff und der mutige Zahnarzt Wilhelm Eidmann können Vorbild sein. Wir brauchen auch Menschen wie Heinrich Huxhorn, Irene und Peter Bento mehr, als ihnen und uns allen bewusst ist. Sie verdienen unsere Achtung und unser aller Respekt. Nach meinen Erfahrungen ist es durchaus möglich, Schülern dies zu vermitteln.
Renate Dreesen