Programm 2002

Programm 2002

 

17.1. – 3.2.2002          X-ODUS – Jüdisches Leben nach 1945

Installationsausstellung von

Ritula Fränkel und Nicholas Morris

27.1.2002                    Gedenken heute – Tag der Befreiung von Auschwitz.

20.3.2002                    Landschaften und Menschen in Israel

Bilder der Malerin Ruth Patt, Haifa

Musikalische Begleitung Irith Gabriely

23.5. 2002                   Lesung mit der Schriftstellerin Esther Dischereit

21.9.2002                    Fahrt zum KZ Struthof im Elsass

10.11.2002                  Gedenkveranstaltung und Eröffnung der Ausstellung

                                    Zirkus Lorch – Die Artistin,

                                    der Clown und ihr Retter

 

In Hollywood verfilmt, aber in Pfungstadt unbekannt

Gedenkveranstaltung und Eröffnung der Ausstellung

Irene Bento überlebte den Holocaust, weil der Zirkus Althoff sie versteckte / Ausstellung in der ehemaligen Synagoge

Von Astrid Ludwig

Als Luft- und Seilartisten war die jüdische Familie Lorsch aus Eschollbrücken weltberühmt. Sie gastierte schon um die Jahrhundertwende in Buenos Aires und New York. Die Nazis ermordeten viele Familienmitglieder in Auschwitz. Irene Bento, Enkelin des Zirkusgründers, überlebte, weil der Zirkus Althoff sie und ihre Angehörigen vier Jahre lang versteckte. Eine Ausstellung in der ehemaligen Synagoge in Pfungstadt dokumentiert von Sonntag an die Geschichte der Retter und Geretteten.

DARMSTADT/PFUNGSTADT. Die Fotos erzählen Geschichten aus einer anderen Welt und anderen Kontinenten. Als die meisten ihrer Nachbarn im kleinen Eschollbrücken, heute Stadtteil von Pfungstadt, oftmals nur bis Darmstadt reisten, schlug die Zirkusfamilie Lorsch ihre Zelte am Zuckerhut auf, in Buenos Aires, sie gastierte in New York und Philadelphia oder in Paris. Wenn sie im Winter ihr Quartier in die Heimat verlegten, zogen sie mit Elefanten und Prunkwagen nach Eschollbrücken ein und wurden dort von einem Musikzug empfangen. Die Pfungstädter Straße, in der sie lebten, hieß im Volksmund Lorsche Gass.

“Die Lorschs waren polyglott. Sie sprachen zwischen fünf und zehn Sprachen. Kosmopoliten, die irgendwie gar nicht ins Dorf passten”, sagt Renate Dreesen. Fasziniert blättert die Vorsitzende des Arbeitskreises “Ehemalige Synagoge Pfungstadt” in den Fotoalben, die ihr Irene Bento aus dem Familienbesitz geliehen hat. Dreesen ist Mitglied im Darmstädter Arbeitskreis “Geschichte vor Ort” und organisiert jährlich die Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Deportation der jüdischen Familien, der Sinti- und Roma am Darmstädter Güterbahnhof mit. Sie hat die am Sonntag beginnende Ausstellung in der Pfungstädter Synagoge über die Bentos initiiert. “Eine Geschichte, die unbedingt erzählt werden muss. Eine Rettergeschichte.” Für Renate Dreesen ist es wichtig, dass zum Gedenktag der Pogrome gegen Juden “auch die positiven Beispiele gezeigt werden”.

Die Geschichte der Irene Bento, die seit Kriegsende mit ihrem Mann Peter wieder in Eschollbrücken lebt, ist so ein Beispiel. “Ihr Leben wurde in Büchern geschildert und von Barbra Streisand verfilmt, doch in Pfungstadt kennt sie keiner oder will sie keiner kennen”, bedauert Dreesen. Irenes Retter, Maria und Adolf Althoff, ebenfalls eine weltberühmte Zirkusfamilie, wurde für ihr mutiges Handeln von Yad Vashem mit der Medaille der “Gerechten der Völker” ausgezeichnet. In Eschollbrücken nahm kaum einer Notiz davon.

Die Familie – Irene, die Eltern Alice und Hans, die Schwester Gerda – leben als Artisten, bis ihnen der zunehmende Antisemitismus der 30er Jahre das Leben schwer und die Arbeit unmöglich macht. Irene darf nicht länger in die normale Schule gehen. Weil die Klassenkameraden ihr vorwerfen, “dass Juden stinken”, lutscht sie als Kind immer Pfefferminzbonbons, erzählt sie in ihren Erinnerungen. Ein Zahnarzt aus dem Ort gewährt ihr trotz der rassistischen Nazi-Hetze Arbeit.

Als der Zirkus Althoff in der Nähe gastiert, schickt ihre Mutter sie zu den Artisten, um nach Arbeit zu fragen. Die inzwischen 18-Jährige lernt den Musikclown Peter Bento kennen, die beiden verlieben sich. Irene, ihre Mutter und ihre Schwester finden Unterschlupf und gehen mit Althoff auf Tournee. Irene tritt als Clown auf, als Zirkusreiterin und Elefantendompteurin. Immer wieder müssen sie sich auch dort zwischen 1941 und 45 vor den Kontrolleuren der Nazis verstecken. Doch sie überleben dank der Solidarität der Artisten, während die Großmutter Sessie Lorch und deren Geschwister in Auschwitz ermordet werden. Nach dem Krieg kehren die Bentos als einzige jüdische Familie nach Eschollbrücken zurück. Sie arbeiten weiter als Artisten, auch die fünf Kinder ergreifen diesen Beruf.

“Ihr Schicksal muss thematisiert werden. Ihnen sollte die Ehre erwiesen werden, die sie verdienen”, findet Renate Dreesen. Mit Originalfotos und Zirkuskostümen der Familie Bento hat sie die Ausstellung komplettiert, die am Sonntag, 17 Uhr, mit einer Gedenkfeier in der ehemaligen Synagoge, Hillgasse 8, in Pfungstadt eröffnet wird. Irene und Peter Bento, beide heute 80 Jahre alt, haben ihren Besuch zugesagt.

� Die Ausstellung ist bis Ende November jeweils mittwochs bis samstags von 16 bis 18 Uhr zu sehen und sonntags von 10 bis 12 Uhr sowie nach Vereinbarung (Tel. 06157/ 84470)

Ruth Patt: „Menschen und Landschaften in Israel“

Ruth Patt: „Menschen und Landschaften in Israel“
Musik: Irith Gabriely, Queen of Klezmer

Ruth Patt
Die Mutter

Malerin Haifa/Israel

Geboren am 4.12.1926 in Wien als musisch begabte Tochter von Elieser und Malka Achtel.
1939 wanderte die Familie nach Palästina aus. Dort besuchte Ruth nach ihrem Abitur die Hochschule der Künste „Bezal’el“ in Jerusalem und absolvierte 1946 – 1948 ihr Studium der Malerei, Bildhauerei und Fotografie.
Ruth hat drei Kinder: Irith, Doron und Ziva.
Sie lebt mit ihrem Mann Isaak in Haifa/Israel.

Irith GabrielyDie Tochter

Musikerin Queen of Klezmer

Geboren 1950 in Haifa, nach der Schulzeit Studium an der Musikhochschule in Tel Aviv.
Seit 1974 lebt Irith Gabriely in Deutschland, hat in vielen Orchestern gespielt. Von 1978 bis 1995 spielt sie Symphonieorchester des Staatstheaters Darmstadt mit.
Seit mehr als 10 Jahren ist Irith mit ihrer Gruppe „Colalaila“ nicht nur in Deutschland, sondern auch international erfolgreich. Sie hat zahlreiche CDs herausgebracht.

Isaak PattDer Vater * Haifa/Israel

Geboren in Polen, kam er mit 2 Jahren 1924 nach Palästina. Er gehört zur Generation von Pionieren, die den Staat Israel mit aufgebaut haben.
Heute ist Isaak Patt Pensionär.
An seinem 80. Geburtstag überraschte er seine Familie mit eigenen Gedichten und Aufzeichnungen aus seinem Leben.

X-ODUS – Jüdisches Leben nach 1945

Installationsausstellung von Ritula Fränkel und Nicholas Morris
Sonderveranstaltung mit den Künstlern am 27.1.2002 um 11Uhr zum Tag der Befreiung von Auschwitz

Der Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt lädt ein:
Am Donnerstag den 17.1.2002 um 19 Uhr wird die Installationsausstellung
X-ODUS der Künstler Ritula Fränkel und Nicholas Morris in der ehemaligen Synagoge in Pfungstadt eröffnet.

Die ortsbezogene Installation, die jüdisches Leben in Hessen nach 1945 künstlerisch interpretiert und historische Dokumente aus Archiven und Inventaren und persönliche Erinnerungsgegenstände mit einbezieht, wird bis zum 3.2.2002 in der Hillgasse 8 zu besichtigen sein. Die beiden Künstler schaffen mit den Objektinstallationen ein visuelles Erinnerungstagebuch, ähnlich den Memorbüchern der osteuropäischen Juden, in dem sowohl die Kultur der Diaspora als auch Einzelschicksale herausgelesen werden können.

Mit Bildern, Objekten, Zeichnungen, Textilien und Texten wird Erinnerung konstruiert und ein Gedächtnis der Dinge geschaffen.

Die Ausstellung ist geöffnet vom 18.1. bis 3.2.2002 jeweils von 16 Uhr bis 18 Uhr, Sonntags von 10 Uhr bis 12 Uhr

Ermöglicht durch die Unterstützung von:
Berchelmannsche Apotheke, Buchhandlung Faller, DGB – Ortskartell Pfungstadt, Früchte Michel, Hechler & Nickel, Buchhandlung Helene, Kaufhaus Riedinger, Küchen Lang, Modehaus Ley, Nadja, Fisch Rithgen, Neukauf Brunner, Optik Bogorinski, Schaulade, Strumpfmoden Fissel, Stumpf Schreibwaren, Sparkasse Darmstadt, Wäscheladen Wißler, Juwelier Welz, Frotscher Druck GmbH u.a.

Programm 2001

25.10.2001 Lesung und Zeitzeugengespräch mit Ruth David

Im Alter von neun Jahren musste die in Fränkisch-Crumbach im Odenwald geborene Ruth Oppenheimer ihre Heimat verlassen. Mit einem Kindertransport kam sie nach England und konnte so dem Schicksal entfliehen, von den Nazis deportiert und ermordet zu werden.

 

Ruth David, die lange Jahre in England als Lehrerin arbeitete und heute in den USA lebt, hat ein Buch geschrieben über ihre Kindheit in Fränkisch-Crumbach, die zunehmenden Verfolgungen, denen sie und ihre Familie ausgesetzt waren, sowie auch über die schwierigen Jahre als Kind allein in England. Dass ihre Eltern das NS-Regime nicht überlebten, erfuhr sie erst nach Ende des Krieges.

 

Seit einigen Jahren kommt Ruth David auf Einladung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und liest in Schulen und anderen Veranstaltungen. Am 25.Oktober wird Ruth David zum ersten Mal in Pfungstadt in der neu renovierten Synagoge als Zeitzeugin sprechen.

 

Sie sind dazu herzlich eingeladen.

Zeitzeugenlesung und Gespräch mit Ruth David

Im Alter von neun Jahren musste die in Fränkisch-Crumbach im Odenwald geborene Ruth Oppenheimer ihre Heimat verlassen. Mit einem Kindertransport kam sie nach England und konnte so dem Schicksal entfliehen, von den Nazis deportiert und ermordet zu werden.Ruth David, die lange Jahre in England als Lehrerin arbeitete und heute in den USA lebt, hat ein Buch geschrieben über ihre Kindheit in Fränkisch-Crumbach, die zunehmenden Verfolgungen, denen sie und ihre Familie ausgesetzt waren, sowie auch über die schwierigen Jahre als Kind allein in England. Dass ihre Eltern das NS-Regime nicht überlebten, erfuhr sie erst nach Ende des Krieges.

Seit einigen Jahren kommt Ruth David auf Einladung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und liest in Schulen und anderen Veranstaltungen. Am 25.Oktober spricht Ruth David zum ersten Mal in Pfungstadt in der neu renovierten Synagoge als Zeitzeugin.

Spurensuche im Unterricht – ein Projekt aus Darmstadt

Häufig hört man – belegt durch Umfragen – Schüleräußerungen, sie wollten nichts mehr hören über die NS-Zeit. Ich kann dies nicht bestätigen. Gerade junge Menschen sind oft viel eher bereit, sich mit der Geschichte auseinander zu setzen als ältere – wenn man bestimmte Dinge beachtet. Jugendlichen kann man nicht mit Schuld kommen, sie sind Nachgeborene wie ich auch. Schuld ist immer an Personen und Ereignisse gebunden.

Facing History and Ourselves

Seit vielen Jahren arbeite ich mit dem Programm “Facing History and Ourselves” . Dieses Programm wurde vor fast 30 Jahren entwickelt, um das Rassismus – Problem in Amerika anzupacken. Es bietet meiner Ansicht nach viele gute vor allem methodische Ansätze für den Zugang zur Geschichte des Holocaust. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Vermitteln von historischen Fakten, sondern um das Handeln von Personen und unsere heutige Haltung zu diesem Handeln.

Gerade in dem Ansatz “Facing History and Ourselves” sehe ich Möglichkeiten, mit Schülern über die Shoah zu arbeiten und dabei nicht bei der Bekundung allgemeiner Betroffenheit stehen zu bleiben. Ausgehend von der Reflexion der eigenen Identität, auch eigenen Erfahrungen mit Verletzung und Diskriminierung werden eigene Vorurteile bewusstgemacht und damit eine wesentliche Voraussetzung geschaffen, sie zu überwinden.

Ein Bezug zur Gegenwart wird immer mit beabsichtigt und mitgedacht. Dies hat für mich dazu geführt, vor allem vor Ort zu recherchieren. Dabei wird deutlich, was die Geschichte der Nazizeit mit uns heute zu tun hat, dass die Geschehnisse nicht abstrakt, weit weg und wenig fassbar sind.

Für die konkrete Arbeit ist für mich wichtig, an eigenen Bezugspunkten anzuknüpfen, d.h. in der Schule, am Wohnort, aber auch in der Familie und sich besonders einzelnen Schicksalen zuzuwenden. Die Spurensuche knüpft an der Erforschung unserer Schulgeschichte an, die 1998 mit der Publikation “Schule gestern – Schule heute” abgeschlossen wurde.

Wider das Vergessen – Schüler gehen auf Spurensuche

Von Darmstadt aus fanden über die Justus-Liebig-Schule in den Jahren 1942 und 1943 Deportationen aus dem ganzen südhessischen Raum statt , die Schule diente als Sammellager. Die Listen der verschiedenen Deportationen sind erhalten und zugänglich . Es lag also nahe, ausgehend von diesen Listen auf Spurensuche zu gehen. Mittlerweile liegen nicht nur die Listen für Darmstadt vor , sondern auch die Deportationslisten aus dem ehemaligen Volksstaat Hessen.

Als ich das Projekt den Schülern vorstellte, bat ich sie, aus den Deportationslisten möglichst Namen herauszusuchen, zu denen sie einen Bezug herstellen können: Personen aus ihrem Wohnort (unsere Schule hat ein sehr großes Einzugsgebiet), ihrer Straße etc. Ich regte dazu an, in die Archive zu gehen, in die Straßen, Nachbarn zu befragen. Dennoch wurden die Jugendlichen oft abgewiesen und es bedurfte vieler Ermutigungen, beharrlich weiter zu machen. Eine Form der Ermutigung war, dass ich einen Film zeigte, der die Schwierigkeiten bei der Spurensuche zum Gegenstand hatte. In diesem Film wurde am Beispiel eines Ortes in unserer Nähe vor allem gezeigt, dass die Menschen durchaus bereit sind, über die Themen Nationalsozialismus, Pogromnacht und Judenverfolgung zu reden, aber sofort jedes Gespräch verweigern, wenn es um konkrete Orte oder gar Namen geht. Es stellte sich als hilfreich heraus, den Schülern ein offizielles Schreiben der Schule mitzugeben, in dem das Projekt beschrieben und um Unterstützung gebeten wurde.

Die Schüler haben zum Teil sehr viele Menschen gesprochen, in alten Akten gestöbert und findig neue Wege gesucht, um an weitere Informationen zu gelangen. Unter besonderen Bedingungen und bei einem schwierigen Thema haben sie auch viel über Arbeitsformen gelernt, aber vor allem haben sie erfahren, wie auch heute noch mit diesem Teil unserer Geschichte umgegangen wird. Seit sieben Jahren gehen Schüler an der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt auf Spurensuche und fördern z. T. Erstaunliches zu Tage. Zum 9. November präsentieren sie ihre Ergebnisse in einer kleinen Gedenkveranstaltung in der Schule.

Wenn Schülerinnen und Schüler auf Spurensuche gehen und Erinnerungsarbeit leisten, so ist das nicht Selbstzweck. Aus der Geschichte lernen heißt, sich dafür zu engagieren, dass sie sich nicht wiederholt. Indem wir uns erinnern, stellen wir uns den Versuchen der Verdrängung und Leugnung entgegen.

Heute steht für Jugendliche nicht die Frage der Schuld im Mittelpunkt, sondern die der Verantwortung. Empathie für die Opfer und Empfindsamkeit für das Leid anderer ist auch eine Voraussetzung, allen Formen von Diskriminierung und Gewalt gegenüber Minderheiten in unseren Tagen entschiedener und mutiger entgegenzutreten.

Vor einigen Jahren wurde ich nach Budapest zu einer „Conference for Tolerance“ eingeladen, um dort diese Projektarbeit vorzustellen. In Budapest geht man häufig mit Zeitzeugen in Schulen – wie bei uns auch. Aber neu war für mich, dass Überlebende gemeinsam mit Helfern in Schulen gingen. Ein faszinierender Ansatz. Ich ließ im darauf folgenden Jahr die Schüler nach Rettergeschichten fahnden – allerdings mit mäßigem Erfolg. Auch über diese Geschichten wird auch heute oft noch geschwiegen und wie wir wissen, gab es mehr Täter, noch mehr Opfer und nur wenige Helfer. Selbst die Forschung beschäftigt sich erst seit wenigen Jahren mit den Rettergeschichten.

Gerade für Jugendliche scheinen mir diese Rettergeschichten in besonderem Maße bedeutsam zu sein, sie können positive Beispiele, ja möglicherweise auch Leitbilder vermitteln. Tagtäglich werden wir z. B. in den Medien mit allen kaum denkbaren Abgründen menschlichen Handeln konfrontiert, da sind die Täter des Holocaust manchmal nur eine besondere Variante. Positive Beispiele sind offenbar weniger spektakulär. Beispiele für Zivilcourage gibt es natürlich, aber wahrgenommen werden sie kaum.

Retter und Helfer – der Zirkus Lorch aus Eschollbrücken

Ein weiteres besonders interessantes Beispiel aus Pfungstadt ist die Geschichte der berühmten Zirkusfamilie Lorch. Diese bemerkenswerte Geschichte der Zirkusfamilie ist als Buch und für das Fernsehen dokumentiert, in den USA sogar von Barbara Streisand verfilmt, war aber in Eschollbrücken und Pfungstadt kaum bekannt. Die älteren Bürger und die Bürger des Stadtteils Eschollbrücken kennen die Geschichte, die Jüngeren kaum. Deshalb hat der Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt e.V. 2003 die Ausstellung „Zirkus Lorch Die Artistin, der Clown und ihr Retter“ in der ehemaligen Synagoge Pfungstadt gezeigt.

Seit 150 Jahren leben Mitglieder der Familie Lorch in Eschollbrücken, vor genau 100 Jahren bauten sie ihr Haus in der „Lorchegass“. Der Zirkus Lorch wurde bereits im 19. Jahrhundert gegründet. Als Ikarier waren die Artisten der Familie Lorch weltberühmt. Julius Lorch, Irenes Großvater, war bekannt als König der Iakrier. Sie gastierten nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, aber in Eschollbrücken waren sie zu Hause. Alice und Hans Danner waren Artisten, Hans Danner arbeitete am Schwungseil, Irene war Zirkusreiterin, ihr Mann Peter Bento Musikalclown. Ihr Winterquartier bezogen sie mit Elefanten und Tross in Eschollbrücken, wo sie in frühren Zeiten immer freudig begrüßt wurden, bis nach 1933 auch in Eschollbrücken der Antisemitismus offen zutage trat.

Am 7. März 1943 wurden Sessie Lorch, Irenes geliebte Großmutter, und ihr Onkel Eugen Lorch aus ihren Wohnungen aus Eschollbrücken von der Gestapo abgeholt, nach Darmstadt verschleppt und in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre Onkel Arthur und Rudolph wurden ebenfalls in Auschwitz ermordet. Aphons Lorch war bereits 1940 im Lager Gurs in Frankreich zu Tode gekommen.

Sessie Lorch, geboren am 3.12.1874, war die Ehefrau des Zirkusdirektors Julius Lorch. Er selbst starb in bitterster Not in Brüssel, nachdem er nach einem Engagement nicht mehr nach Nazideutschland zurück konnte. Seine Frau Sessie hat er nicht wieder gesehen.

Irene Bento, ihre Kinder, ihre Mutter Alice Danner und ihre Schwester Gerda haben überlebt, weil sie im Zirkus Althoff vor den Nazis versteckt wurden. Adolf und Maria Althoff wurden 1995 für ihr mutiges Handeln von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.

Irene und Peter Bento leben noch heute in Eschollbrücken. Trotz allen Leids, das man ihnen und ihrer Familie zugefügt hat, sind sie zurückgekehrt – als einzige jüdische Familie. Sie haben die ganze Welt gesehen, viele verehren und bewundern sie. Sie entstammen einer weltberühmten Familie und sind selbst berühmt.

Es gibt viele Möglichkeiten, diese Geschichte mit Schüler zu erarbeiten. Selbst habe ich mit Schülern die Ausstellung besucht, sie waren sehr beeindruckt vom Schicksal der Lorchs. Hinzu kommt bei diesem Beispiel, dass nicht nur für Jugendliche die Zirkuswelt etwas ganz Besonderes darstellt. Auch der Film und das Buch ermöglichen einen guten Zugang zum Thema. Material ist also vorhanden.

Ein großer Vorteil bei der Arbeit in der eigenen Umgebung ist, dass es möglich ist, konkrete Orte zu besuchen, Menschen zu treffen, die über die Ereignisse Bescheid wissen, die die Personen kennen. In diesem Beispiel könnte auch der Kontakt zu der Familie hergestellt werden. Das Zusammentreffen mit Zeitzeugen ist für Schüler immer sehr bewegend und wirkt meist nachhaltig. Die Wirkung ist noch größer, wenn es am eigenen Ort geschieht. Aber auch für die Zeitzeugen sind solche Begegnungen bedeutsam, wenn sie feststellen, dass ihr Schicksal wahrgenommen wird. Auch wenn das Vergangene nicht ungeschehen gemacht werden kann, lindert es vielleicht den Schmerz, wenn wir uns mit der Vergangenheit auseinander setzen, uns der Vergangenheit stellen. Die Jugendlichen, die an den Spurensucheprojekten teilgenommen haben, akzeptieren nicht mehr ohne weiteres, wenn die Verbrechen geleugnet werden, wenn weiter behauptet wird, man habe das nicht gewusst oder nichts tun können.

Sie haben erfahren, dass manche etwas getan haben, wie der Pfungstädter Dentist Eidmann, der Irene als junges Mädchen eine Stelle als Zahnarzthelferin gegeben hatte, obwohl es längst verboten war, Juden zu beschäftigen. Oder Maria und Adolf Althoff, die die Familie über 4 Jahre versteckt haben. Menschen wie Maria und Adolf Althoff und der mutige Zahnarzt Wilhelm Eidmann können Vorbild sein. Wir brauchen auch Menschen wie Heinrich Huxhorn, Irene und Peter Bento mehr, als ihnen und uns allen bewusst ist. Sie verdienen unsere Achtung und unser aller Respekt. Nach meinen Erfahrungen ist es durchaus möglich, Schülern dies zu vermitteln.

Renate Dreesen